Bei der Betreuung unserer integrativen Gruppen stützen wir uns auf zwei Fundamente: Naturpädagogik und Psychomotorik. Die Psychomotorik wurde in den 50-er Jahren von Prof. Dr. E. J. Kiphard entwickelt. Ihr Ziel ist es, über ganzheitliche Bewegungswahrnehmung Einfluss auf die psychische Entwicklung zu nehmen. Es ist eine kindgerechte therapeutische Methode, die aber früher als andere Therapieformen in geschlossenen Räumen praktiziert wurde und mit vorwiegend genormten Geräten arbeitete. Aber im Alltag ist nichts genormt, die Kinder sind gezwungen, sich ständig auf Veränderungen einzustellen. Und an dieser Aufgabe scheitern sie häufig.
Hier kommt der zweite Baustein ins Spiel: die Naturpädagogik. Wie die Psychomotorik hat auch die Naturpädagogik einen ganzheitlichen Ansatz: Über Sinneswahrnehmungen tritt der Mensch in Kontakt zu seiner Mitwelt, die er verändern kann und die ihn verändert. Ziel der Naturpädagogik ist eine neue Selbstwahrnehmung in der Auseinandersetzung mit dem natürlichen Lebensraum. So können Kinder lernen, ihre Stellung als Mensch in der Welt neu wahrzunehmen und dadurch auch die Bedeutung ökologischen Denkens und Handelns zu erfassen. Dieses Lernen hat nichts mit Theorie zu tun, es kommt aus der unmittelbaren Erfahrung, schließt alle Sinne ein, verbindet Körper und Geist.
In der Natur gibt keine Norm, dort ist der Unterschied die Regel. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für das Konzept unserer Waldgruppen: Warum auf genormten Balken balancieren, wenn es Baumstämme, Steine, schmale Pfade gibt? Warum nicht die Bewegungskoordination spielerisch lernen, unter wechselnden Bedingungen auf immer neuen Untergründen? Und das alles in einer Gruppe, in der sich Kinder mit unterschiedlichen Schwierigkeiten gegenseitig helfen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ziel?
In vielen Jahren täglicher Arbeit sind zwei ursprünglich getrennte Bausteine zu einem integrativen Ganzen zusammengewachsen. Zu Beginn unserer Arbeit vor über 20 Jahren waren viele Fragen noch offen: Wie genau wirkt sich das neue Zusammenspiel von Naturpädagogik und Psychomotorik aus? Bietet das Erlebnis der Natur tatsächlich die erhofften Vorteile für die motorische und soziale Entwicklung?
Diese Fragen sind inzwischen wissenschaftlich geklärt. Hunderte von Forschungsprojekten haben die vielfältigen Ebenen des Zusammenspiels untersucht und klare Ergebnisse vorgelegt: Die Verbindung mit der Natur wirkt sich positiv auf die mentale, soziale und physische Entwicklung aus, und sie fördert Umweltbewusstsein ebenso wie die Umweltbildung.
Im Einzelnen lassen sich – wie das Wissenschaftlerteam Andreas Raith und Armin Lude in einer großangelegten Überblicksstudie gezeigt haben – folgende Erkenntnisse zusammenfassen:
Auf der mentalen Ebene zeigen sich verbessertes Wohlbefinden, Stressreduktion und die Fähigkeit, schwierige Lebensereignisse leichter zu verarbeiten. Außerdem zeigen sich mehr Selbstvertrauen, verbessertes Selbstbewusstsein, größere Selbstständigkeit, verbesserte Konzentrationsfähigkeit, höhere Sprachkompetenz und größere Kreativität. Weil im Wald die Lernprozesse auf neue Weise stimuliert werden, kann dies auch insgesamt den Lernerfolg im Alltag, z. B. in der Schule, verbessern.
Auch die soziale Entwicklung wird in Waldgruppen besonders gefördert. Die Wissenschaftler stellten verbessertes Sozialverhalten, größere Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit fest, außerdem ein positiv verändertes Spielverhalten: es ist vielfältiger, intensiver und kreativer.
Auf der physischen Ebene zeigen sich günstige Auswirkung auf Gesundheit und Bewegung: Die Kinder sind weniger krank, haben ein gesünderes Körpergewicht, bewegen sich mehr und entwickeln verbesserte motorische Fähigkeiten.
Für das Umweltbewusstsein zeigen sich ebenso positive Ergebnisse: Naturverbundenheit, Umweltwissen und Handlungseinstellungen sind deutlich verbessert.1
All diese gesicherten Erkenntnisse gelten natürlich auch (und vielleicht sogar vermehrt) für Kinder mit sozialen und motorischen Entwicklungsstörungen, die wir in unseren Gruppen „besondere Kinder“ nennen – weil bei uns jeder etwas Besonderes ist. In der sozialen Interaktion innerhalb dieser heterogenen Gruppen entsteht in der Begegnung mit der lebendigen Natur eine besondere Verbundenheit: größere Rücksichtnahme und gegenseitige Förderung. Wer einem anderen hilft, hilft auch sich selbst: Er lernt, Wissen und Handeln zu teilen und erweitert so ganz nebenbei sein eigenes Wahrnehmungs- und Handlungsspektrum.
Die Hinwendung zu Pflanzen und Tieren im Wald, wie sie in den Städten gar nicht möglich ist, fördert nach den Erkenntnissen der Hirnforschung auch die Fähigkeit zur Empathie. Die Begegnung mit anderen Lebewesen mache glücklich, sagt Gerald Hüter, Neurowissenschaftler aus Göttingen, und wer die Erfahrung mache, das Mitgefühl glücklich macht, dem gelinge es auch, dieses Mitgefühl auf andere Menschen zu erweitern. Wer dies erlebt und erfahren habe, dem werde später auch der Schutz der Vielfalt an Lebensformen und menschlichen Kulturen am Herzen liegen.2
All diese Erkenntnisse nehmen wir ganz praktisch jeden Tag in unseren Gruppen wahr. Was wir im Wald erleben, ist dennoch immer wieder neu – für die Kinder, aber auch für uns.
1) Raith/Lude. Startkapital Natur: Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München 2014, Oekom Verlag. S. 61
2) Herbert Renz-Polster/Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Enwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Weinheim und Basel 2013 (Beltz), S. 111